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Unternehmensethik einmal anders

In Anbetracht der fast täglich durch die Medien kommunizierten Missstände und Skandale aus dem aktuellen Wirtschaftsumfeld ist es zunächst einmal nur allzu verständlich, dass die Stakeholder insgesamt kritischer geworden sind. Stakeholder fordern, in ihrem eigenen Interesse, aber auch im Interesse der Natur und der kommenden Generationen, mehr ethische Verantwortung von den Entscheidungsträgern in der Wirtschaft. Und dies hat ja – so scheint es zumindest – auch schon einiges bewirkt. Immerhin belegen zahlreiche Umfragen der letzten Jahre den Trend, dass Unternehmen den zunehmenden Bedarf, sich mit Themen wie Verantwortung und Ethik vermehrt zu beschäftigen, erkannt haben. So erstaunt es nicht weiter, dass Ethik in den Hochglanzbroschüren zahlreicher Unternehmen mittlerweile einen prominenten Platz einnimmt. Auch wir vom IEK haben dies im Rahmen unserer Assessment in Zürich gespürt. Doch bei genauerem Hinsehen gewinnt man dann leider öfters den Eindruck, dass es sich dabei eher um Lippenbekenntnisse handelt zur Corporate Responsibility. Das deutsche Sprichwort „Das Gute lobt mancher und tut’s nicht, das Böse tut mancher und sagt’s nicht“ bildet die vorgefundene Realität in der Geschäftswelt wohl weit präziser ab als die wohlklingenden Aussagen in den Unternehmensbroschüren, wobei man den Begriff „des Bösen“ dann natürlich eher mit der Umschreibung „einseitig gewinn- und wettbewerbsorientiert“ ersetzen müsste.

Was also muss geschehen, damit die ethische Perspektive auch dort Gewicht erhält, wo es um die wirklichen Geschäfte geht und wo Nägel mit Köpfen gemacht werden? Diese Frage führt uns auf ziemlich direktem Weg zu einer Debatte über grundsätzliche Defizite der traditionellen Ethik. Denn während man bei der angestrengten Suche nach dem guten Handeln und nach dem „Guten im Menschen“ lange Zeit dazu tendiert hat, die etwas weniger guten Seiten des Menschen möglichst beiseite zu schieben oder gar unter den Teppich zu kehren, wurde etwas ganz Wichtiges verpasst: Die bewusste und verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit den Schattenseiten in uns selbst. Ob der Mensch nämlich letztlich gut oder böse ist, darüber streitet man seit weit mehr als tausend Jahren. Den letzten Beweis für die Richtigkeit der einen oder anderen Variante, sei es im philosophischen oder im wissenschaftlichen Kontext, hat bisher noch niemand liefern können. Daher ist es wohl am sinnvollsten, wenn wir grundsätzlich beide Optionen im Auge haben und einfach einmal davon ausgehen, dass wir wohl alle von Natur aus das Potenzial für beide Richtungen in uns tragen. Wenn wir also die Verantwortung für unser Handeln im Unternehmensalltag ganz übernehmen wollen – und darum geht es ja letztlich beim Thema der Unternehmensethik –, dann müssen wir vorher uns selbst mit all unseren Facetten unserer Persönlichkeit annehmen können; auch mit solchen, die uns zunächst nicht so gefallen wollen. Tun wir dies nämlich nicht, dann laufen wir Gefahr, alles Negative, das wir an uns selbst nicht annehmen können, auf andere Menschen zu projizieren. In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang von der Projektion als gängigem und häufig zu beobachtenden Abwehr- und Verdrängungsmechanismus. Solche Projektionen führen jedoch insofern stets in eine Sackgasse, als dann keine reale Entwicklung mehr möglich ist. Wer nämlich seine Schattenseiten auf andere projiziert, beraubt sich selbst seiner eigenen Entwicklungspotenziale.

Vielleicht konnten Sie auch schon beobachten, wie sich jeweils sehr rasch zwei Lager bilden, wenn man in einer Runde über Fragen zur Wirtschaftsethik diskutiert. Auf der einen Seite haben wir diejenigen, die sich in guter Absicht für eine bessere Welt einsetzen und aus diesem Grund auch mehr ethische Verantwortung von den Wirtschaftskapitänen fordern. Auf der andern Seite haben wir diejenigen, die sich aus innerer Überzeugung für die Grundwerte der freien Marktwirtschaft stark machen und dabei auch den Wettbewerbs- und Konkurrenzgedanken verteidigen. Meistens geht es dann nicht allzu lange, bis die Meinungen gemacht sind, man sich gar nicht mehr zuhört und die eine Seite von der andern in die Schublade der „unethischen Kapitalisten“ bzw. in diejenige der „naiven Weltverbesserer“ geschoben wird. Spätestens dann befinden wir uns in der Welt der Projektionen, wo sich, wie oben erwähnt, nicht mehr viel bewegt. Das ist sehr bedauerlich, denn genau hier, in der offenen Auseinandersetzung dieser beiden Perspektiven, liegt die einzige Chance, einen Schritt weiterzukommen, indem Gegensätze überwunden und eine neue Qualität auf einer höheren Stufe erreicht werden könnte.

Wenn wir mehr Ethik in die Wirtschaft bringen wollen, dann müssen wir zunächst eine Grundhaltung entwickeln, bei der es nicht primär darum geht, im Kampf für eine bessere Welt gegen das „Böse“ anzutreten. Das haben schon viele versucht – ohne allzu viel Erfolg. Denn damit erreichen wir nur Verdrängung und die Schaffung von neuen Sündenböcken. Wirkliche Veränderung und Entwicklung geschieht hingegen nur durch Integration und durch bewusste selbstreflexive Auseinandersetzung. Eine Ethik, die nicht selbst zur Abspaltung des „Bösen“ beiträgt, sondern vielmehr einen Orientierungsrahmen bietet und sich der Frage stellt, wie wir mit den Schattenseiten in uns umgehen könnten, wäre in jedem Fall eine grosse Bereicherung – auch bzw. gerade im Businesskontext, wo man ja bekanntlich nicht immer nur „Gutmensch“ sein kann. Vera Kast, ehemalige Dozentin und Lehranalytikerin am C.-G.-Jung-Institut in Küsnacht, hat zu diesem spannenden Thema schon vor vielen Jahren einen ganz wichtigen Diskussionsbeitrag geleistet mit ihrem Buch „Der Schatten in uns – Die subversive Lebenskraft“. Darin eröffnet sie uns den Zugang zu dieser unbequemen anderen Hälfte unseres Selbst: zu unserem „Schatten“.

Ethisch handelnde Manager im Sinne des heute oft zitierten „responsible Leaders“ wären dann Menschen, denen es gelungen ist, ihre weniger edlen Anteile so in ihre Persönlichkeit zu integrieren, dass man sich nicht vor ihnen fürchten muss, sondern vielmehr realistischerweise von ihn erwarten darf, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen und sich darum bemühen, mit der erforderlichen menschlichen Reife komplexe Probleme zu managen. Unternehmen mit solchen Führungskräften könnten dann die Sache etwas ruhiger angehen, weil sie ihre Compliance Risiken auf ein Minimum reduziert haben. Die Wirtschaftselite braucht keine Heiligen, aber sie braucht unbedingt menschlich reife Persönlichkeiten, die auch einmal bereit dazu sind, auf eine sich bietende Gewinnmöglichkeit bewusst zu verzichten, weil sie dies aus ethischer Sicht nicht verantworten können. Damit wäre schon viel erreicht. Prof. Dr. phil. Mathias Schüz hat diese Zusammenhänge in seinem sehr aktuellen und wegweisenden Buch über„Angewandte Unternehmensethik“ genauer beschrieben. Mit der Einführung der Kategorie der „Tiefenethik“ hat er den Horizont zudem geöffnet für eine längst fällige Diskussion, in welcher die Debatte um Unternehmensethik weit über die üblichen, meist nicht allzu konstruktiven und unnötig moralisierenden Verunglimpfungen hinausgeht.

Bob Schneider
12.07.2017Bob Schneider
Tags: Unternehmensethik