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Dimensionen der Empathie

Als sich seine Heiligkeit der Dalai Lama und der renommierte amerikanische Psychologieprofessor und Emotionsforscher Paul Ekman zum ersten Mal trafen, entwickelte sich zwischen ihnen eine bemerkenswerte Beziehung. Zum Glück hatten die beiden nicht allzu sehr auf die Warnungen gehört, die man ihnen vor ihrem ersten Treffen zukommen liess: Während der Dalai Lama von Buddhisten aus Amerika zu besonderer Vorsicht ermahnt wurde, weil die „Wissenschaft der Totschläger der Religion“ sei, meinten einige Kollegen aus dem wissenschaftlichen Umfeld zu Paul Ekman: „Sprechen Sie nicht mit dem Dalai Lama. Er wird Sie als Wissenschaftler ruinieren – und Sie werden spirituell werden!“ Und so kam es zu mehreren Treffen, in denen sich die beiden austauschten und in einen intensiven Dialog über Wissenschaft und Spiritualität, über östliche und westliche Denkansätze traten. Dabei haben sie sich unter anderem auch über das Wesen des Mitgefühls unterhalten - ein Thema, das auch bei Assessments immer wieder eine zentrale Rolle spielt:

Jede Diskussion mit dem Ziel, mehr Klarheit über ein komplexes Thema zu gewinnen, beginnt mit einer begrifflichen Klärung. So auch hier: Paul Ekman schlägt vor, vom Begriff der Empathie einmal abzusehen und ihn durch vier präzisere Begriffe zu ersetzen:

1. Das «Erkennen einer Emotion»: Gemeint ist damit beispielsweise die Fähigkeit zu erkennen, wenn eine andere Person leidet. Um empathisch sein zu können muss ich das Gefühl kennen. Denn ich kann nicht an den Gefühlen einer anderen Person teilnehmen, wenn ich nicht weiss, um was für Gefühle es sich handelt.
2. Die «emotionale Resonanz»: Dies bedeutet, die Emotion des andern ebenfalls zu spüren, was über das reine Erkennen hinausgeht. Um fühlen zu können, was der andere fühlt, muss ich zwar zunächst das Gefühl erkennen. Aber umgekehrt führt nicht jedes Erkennen zwangsläufig dazu, dass ich es fühle.
3. Das «Mitgefühl» ist schliesslich der dritte Begriff, den man unterscheiden sollte: Beim Mitgefühl habe ich den Wunsch, das Leiden der andern Person zu lindern. Wenn ich das Leiden nicht erkannt habe, werde ich nicht wissen, dass die andere Person leidet und somit werde ich auch kein Mitgefühl entwickeln. Ein reines Erkennen führt umgekehrt jedoch nicht zwangsläufig zum Mitgefühl. Ich kann ja beispielsweise das Leiden einer andern Person nicht so wichtig nehmen. Schliesslich könnte man die «emotionale Resonanz» als Motivationsfaktor bezeichnen, um Mitgefühl zu empfinden. Wenn ich direkt spüre, wie jemand leidet, kann mich dies dazu motivieren zu handeln, um das Leiden zu reduzieren. Und ein letzter wichtiger Gedanke dazu: Ich habe die Möglichkeit, einzig durch das «Erkennen der Emotion» Mitgefühl zu empfinden. Die «emotionale Resonanz» ist somit nicht eine zwingende Voraussetzung, um «Mitgefühl» entwickeln zu können.
4. Zum Schluss kommt Daniel Ekman auf den Begriff des «Altruismus» zu sprechen. Damit meint er das Mitgefühl, welches dazu führt, dass ich das Leid der andern Person zu lindern versuche und dabei auch gewisse Risiken für das eigene Wohlergehen in Kauf nehme. Ich helfe dem andern – und gefährde mich dabei selbst.

Damit sind die verschiedenen Aspekte von Empathie genannt. Man könnte es sich nun einfach machen und behaupten, dass emotional intelligente – und somit empathische – Führungskräfte über all die oben aufgeführten Eigenschaften verfügen sollten. Doch dies wäre weder besonders klug noch allzu realistisch, zumindest wenn man den Gedanken nicht noch etwas weiterentwickelt. Dies haben auch die beiden Gesprächspartner getan, indem sie der Frage nachgegangen sind, inwiefern man durch ein Übermass an „emotionaler Resonanz“ sowohl sich selbst als auch seinem Umfeld nicht auch schaden könne. Als Beispiel unterhielten sie sich über die Krankenschwester in einem Spital für krebskranke Kinder. Würde die Krankenschwester all das Leid dieser Kinder und deren Eltern mitfühlen, wäre sie vermutlich bald nicht mehr arbeitsfähig und würde ausbrennen. Sie braucht daher zusätzlich etwas, was der Dalai Lama die «unterscheidende Bewusstheit» nennt. Dabei geht es um eine innere Balance, um ein Gleichgewicht zwischen Mitgefühl und Weisheit. Nach dem buddhistischen Verständnis besteht die Rolle der «unterscheidenden Bewusstheit» darin, dass «zwischen den unterschiedlichen Geisteszuständen eine Art von Konfliktlösung» erreicht wird. Gemeint ist damit die Fähigkeit, bei Bedarf die eigene «emotionale Resonanz» zurücknehmen zu können, um handlungsfähig zu bleiben. Anstatt zusammenzusitzen und gemeinsam zu weinen, tut man sein Möglichstes, um die Situation für alle zu verbessern.

Wenn Kündigungen ausgesprochen werden müssen, um die Zukunft des Unternehmens zu retten, dann ist es wichtig, eine gewisse Distanz zur eigenen emotionalen Betroffenheit einzunehmen, um die richtigen Entscheide in die Praxis umzusetzen. Folgt man der Argumentation des Dalai Lama, dann verfügen emotional intelligente Führungskräfte einerseits über Demut – d. h. sie sind in der Lage, «das Gefühl des Ichs oder der Bedeutsamkeit der eigenen Person abzubauen» bzw. zu relativieren. Andererseits haben sie den nötigen Mut bzw. «das Bedürfnis, zum Vorteil anderer zu wirken». Diese beiden sich allem Anschein nach zu widersprechenden Zustände – Mut und Demut – gilt es miteinander in Einklang zu bringen. Dies geschieht durch die Anwendung der Weisheit.



Dieser Dialog wurde im Jahr 2008 in Buchform herausgegeben und später ins Deutsche übersetzt. Titel der deutschen Übersetzung: Gefühl und Mitgefühl – Ein Dialog zwischen dem Dalai Lama und Paul Ekman. Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Matthias Reiss, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2009

Hier der Link zum Buch.

Bob Schneider
19.04.2017Bob Schneider
Tags: Empathie