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Einfach möglichst viel «agil»?

Viele können den Begriff «agil» schon gar nicht mehr hören. Und doch ist diese Eigenschaft aus aktuellen Kompetenzmodellen nicht mehr wegzudenken. Aber was ist damit eigentlich genau gemeint? Wenn Begriffe inflationär benutzt werden, führt dies in der Regel – im günstigere Fall – zu einer gewissen Unschärfe. Im ungünstigeren Fall sogar dazu, dass der Begriff zur blossen Floskel verkommt. Höchste Zeit also, sich ein paar Gedanken darüber zu machen.

Die Brainbirds (www.brainbirds.com ) haben den Begriff einfach und recht treffend definiert:
«Agilität bezeichnet die schnelle Anpassungsfähigkeit von Institutionen und Einzelpersonen an die dynamischen und komplexen Rahmenbedingungen der VUCA-Welt.»

Ein agiles Mindset und agile Methoden helfen dabei, flexibler und schneller auf unerwartete Ereignisse und neue Herausforderungen adäquat reagieren zu können, so dass man auch bei kurzfristigen Veränderungen der Rahmenbedingungen (wie zum Beispiel bei neuen Kundenbedürfnissen, bei sehr raschem technischen Fortschritt oder bei instabilen Lieferketten u. a.) handlungsfähig bleibt.

Soweit so gut. Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden, zumal es logisch klingt und einfach nachvollziehbar ist. Wenn man sich allerdings in Belegschaften etwas genauer herumhört, merkt man schnell, dass die stete Rede von mehr Agilität bei weitem nicht bei allen Anklang findet. Oftmals ist die Rede vom völlig übertriebenen Innovationsdrang, von Ruhe- und Rastlosigkeit in der Chefetage sowie ganz einfach von strukturlosem Chaos. Worauf soll man sich denn noch verlassen können, wenn morgen schon wieder alles anders sein kann als heute? Was gilt denn noch? Wo gibt es denn überhaupt noch irgendwelche Verbindlichkeiten? Ist der Ruf nach mehr Agilität letztlich nicht einfach eine Möglichkeit, die eigene Unfähigkeit zur Bildung von logischen Arbeitsabläufen und klar strukturierten Prozessen zu kaschieren?
Genau an diesem Punkt leistet das zwar schon etwas in die Jahre gekommene, aber immer noch sehr aktuelle und hilfreiche Modell «Werte- und Entwicklungsquadrat» von Schulz von Thun einen wichtigen Beitrag (https://www.schulz-von-thun.de/die-modelle/das-werte-und-entwicklungsquadrat ). Es besagt im Wesentlichen, dass positive menschliche Eigenschaften – Schulz von Thun spricht hier von «Tugenden» – nie für sich alleine betrachtet werden sollten, sondern immer in einem Kontext, in welchem auch die entsprechende Antithese (oder eben die Gegentugend) ihren Platz hat. Es geht dann eben nie um ein Maximum, das man anstreben sollte, sondern immer um ein Optimum. Eine bestimmte Tugend ist nur solange positiv, wie sie in einer gesunden Balance zu ihrer Gegentugend steht. Wer es zum Beispiel im Umgang mit Geld an Sparsamkeit übertreibt, wird auf einmal geizig. Wer hingegen allzu grosszügig ist, läuft Gefahr, als verschwenderisch wahrgenommen zu werden. Auch dies sind Balancethemen

Nun weisst du sicher, worauf ich hinaus will. Genau. Auch das Konzept der Agilität sollte sich, um wirklich ernstgenommen werden zu können, dem Balancetest nach dem Modell von Schulz von Thun stellen. Dabei stehen Flexibilität, Innovationsfreude und Agilität auf der einen Seite, während auf der anderen Seite ein Gegengewicht geschaffen werden muss mit Werten wie Stabilität, Struktur und geregelte Prozesse. Etwas salopp formuliert könnte man auch sagen, dass ein Unternehmen neben aller Innovationsoffenheit auch noch ein paar gut funktionierende Prozesse und ein paar bewährte Produkte oder Dienstleistungen braucht, mit denen Geld verdient wird – nicht zuletzt, damit man sich die kostspieligen «innovation labs» überhaupt leisten kann.

Es gibt daneben natürlich noch zahlreiche andere Möglichkeiten, wie man den Kerngedanken vom Werte- und Entwicklungsquadrat nach Schulz von Thun rund um den Themenbereich der agilen Führung anwenden kann. Zum Schluss vielleicht noch dies:
So würde ich beispielsweise den Begriff der «differenzierten Agilität» in die Diskussion einbringen und ihn wie folgt beschreiben: Gemeint ist damit die Fähigkeit, einerseits reaktiv, flexibel und anpassungsfähig, andererseits aber auch proaktiv, initiativ und antizipativ zu handeln. Agil geführte Organisationen können dabei die vielfältigen und zunehmenden Spannungsverhältnisse – so zum Beispiel zwischen Effizienz und Innovation – besser managen. Zudem gewähren agile Führungskräfte dezentral hohe Entscheidungsautonomie und bieten gleichzeitig einen zentralen inhaltlichen Rahmen zur Orientierung.

Mai 2022, Bob Schneider

Bob Schneider
30.05.2022Bob Schneider
Tags: Agilität