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Führung 4.0 und ethische Kompetenz

Es gilt mittlerweile als unbestritten, dass ethische Kompetenz im Zusammenhang mit den unter dem Stichwort «Führung 4.0»  diskutierten Erwartungen an die oberste Führungsetage zu den wohl wichtigsten Führungsqualitäten der Zukunft gehört. So muss sich heute, angesichts der immer noch zunehmenden Globalisierung und Digitalisierung, jedes grössere Unternehmen mit Themen wie Nachhaltigkeit und Datenschutz auseinandersetzen. Man kommt an der Ethik heute nicht mehr vorbei. Doch warum scheitern so viele erfolgreiche Führungskräfte genau an diesem Thema? Was ist zu tun und welchen Beitrag leistet hier Führung 4.0?

«Ethical leadership fails» soweit das Auge reicht. Egal ob Regierungsmitglieder aus verschiedensten Ländern oder Mitglieder aus der Teppichetage diverser internationaler Konzerne: Überall sind wir konfrontiert mit ethischen Fehlleistungen – und dies trotz aller dringlichen Appellen, die nicht erst seit der Debatte um Führung 4.0 an das oberste Management gerichtet werden. Und wir stellen uns zu Recht die Frage: «Was haben die sich denn eigentlich dabei gedacht?» Ja – von aussen ist uns natürlich allen klar, dass Führungspersönlichkeiten unter ethischer Dauerüberwachung stehen, dass sie an ihren Taten und an ihren Worten gemessen werden und dass sie gnadenlos abgestraft werden, wenn sie glauben, dass sie wegen ihrer Machtposition Anspruch auf Sonderrechte hätten. Führung 4.0 steht immer auch für vermehrte Transparenz und für Demokratisierung.
Dabei vergessen wir zwar möglicherweise als Beobachter nur allzu gerne, dass es im Nachhinein und als unbeteiligte Aussenstehende so viel leichter ist, die ethischen Fallstricke zu erkennen, als für jemanden, der unter Zeit- und Erfolgsdruck auf ein komplexes Problem reagieren muss. Gleichwohl ist eine umfassende Korrektur angesagt, die unter Führung 4.0 auch schon länger andiskutiert wird. Ich sehe in diesem Zusammenhang vor allem zwei Dynamiken, die hier eine wichtige Rolle spielen:

Die Ansprüche von Führung 4.0 und die Praxis
Auf der einen Seite haben die meisten Führungskräfte nie gelernt, wie ethische Führung geht und wie man die ethischen Fallstricke, die mit Machtpositionen einhergehen, vermeidet. Auf der anderen Seite ist das Toleranzlevel der Gesellschaft für schlechte Vorbilder in den Teppichetagen dramatisch gesunken. Dazu folgender Hinweis: Gemäss einer Studie von PWC wurden 2018 in den USA zum ersten Mal in der Geschichte dieser jährlichen Untersuchung mehr CEOs wegen moralischen Verfehlungen als wegen schlechten finanziellen Ergebnissen entlassen. Das Sündenregister reicht von sexuellem Fehlverhalten und Mobbingklagen über Verstrickungen in Betrug und fahrlässiger Verursachung von Umweltkatastrophen bis hin zu Korruption und Insiderhandel. Also alles Dinge, die man in der Diskussion um Führung 4.0 als längst überwunden zu glauben scheint.
Warum aber scheitern so viele Führungskräfte an der Ethik?
Einen ersten interessanten Hinweis dazu liefert Dr. Bettina Palazzo, wenn sie von «Machtvergiftung» spricht. Sie nimmt dabei Bezug auf Ergebnisse der neuropsychologischen Forschung, welche besagen, dass Menschen in Machtpositionen zu respektlosem und impulsivem Verhalten neigen. Sie tun dies angeblich vor allem deshalb, weil sie davon ausgehen, dass ihnen mehr Freiheit zusteht als anderen. Schliesslich hätten sie stets eine clevere Ausrede parat für ihr unethisches Verhalten. Diese Effekte der Machtvergiftung werden zudem nicht selten durch das oft übermässige Selbstvertrauen von Spitzenmanagern verstärkt. Nichts gegen ein gutes Selbstvertrauen – aber man kann es damit auch übertreiben. Denn die Kehrseite einer sehr positiven Selbsteinschätzung besteht darin, dass sie schnell einmal in Selbstüberschätzung umschlagen kann und man sich im entscheidenden Moment die erforderlichen selbstkritischen Fragen nicht mehr stellt. Führung 4.0 beschreibt hier auch einen Balanceakt zwischen gesundem Selbstbewusstsein und der inneren Bereitschaft zu wohlwollend kritischer Selbstreflexion. Gelingt diese Balance nicht, haben wir es entweder mit verunsicherten und wenig entscheidungsfreudigen oder dann eben mit selbstherrlichen Topmanagern zu tun. Beides ist nicht im Sinne von Führung 4.0.
Schliesslich wissen wir ebenfalls aus der Forschung, dass Menschen sich selbst in der Regel als «gute Menschen» sehen. Wird dies von jemandem in Frage gestellt, reagieren wir schnell einmal mit Ärger und nehmen eine defensive Haltung ein («moralische Identitätsbedrohung»). Aus diesem Grund erhalten Führungskräfte in Machtpositionen praktisch nie ein kritisches Feedback zu ihrem ethischen oder eben unethischen Verhalten, weil die Menschen in deren Umgebung sehr wohl wissen, dass sie damit die Beziehung zu einer Ansprechperson aus ihrem Umfeld gefährden, von der sie möglicherweise stark abhängig sind – zumindest was deren berufliche Karriere im Unternehmen betrifft. Doch wenn jemand so gut wie nie ein kritisches Feedback erhält, ist es auch sehr schwierig, selbstkritisch über die ethische Dimension seines eigenen Handelns zu reflektieren. Genau darin besteht jedoch ein zentraler Anspruch von Führung 4.0.
Später wundert man sich dann, warum denn niemand etwas gesagt hatte, obwohl doch schon lange Zeit vor dem Bekanntwerden eines Skandals innerhalb eines Unternehmens bekannt war, dass etwas schiefläuft.

Wie Führung 4.0 gelingen kann
Unabdingbar sind daher entsprechende Unternehmensstrukturen, welche die ethische Kompetenz der Führungskräfte fördern sowie eine offene Gesprächs- und Feedbackkultur, in welcher das Ansprechen von ethischen Bedenken normal und wünschenswert ist. Dies zeigt einmal mehr deutlich auf, dass Führung 4.0 nur in einem dafür geeigneten strukturellen und kulturellen Umfeld gelingen kann. Führung 4.0 beschreibt somit nicht nur ein gefordertes Führungsverhalten, sondern impliziert zudem auch anzustrebende Rahmenbedingungen, in welchen Führung 4.0 sich als neuer Führungsstil der Zukunft auch entfalten und etablieren kann.

Bern, November 2022 / Bob Schneider

Bob Schneider
21.11.2022Bob Schneider
Tags: Führung 4.0 , Unternehmensethik