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Mindfulness im Stresstest

Manchmal bekommen zwei voneinander völlig unabhängige Ereignisse erst in ihrer Kombination eine besondere Bedeutung. Bei mir war es die Vorbereitung eines Workshops zum Thema Mindful Leadership einerseits und ein Nachtessen mit einem alten Bekannten – nennen wir ihn Fritz – andererseits. Auf einmal wurde meine eigene Achtsamkeitspraxis unerwartet hart auf die Probe gestellt.

Ich hatte mich gerade in die Lektüre eines Buches von Jon Kabat-Zinn, dem eigentlichen Begründer des Mind-fulness-Ansatzes, vertieft und mich mit seiner Grundhaltung des «Nicht-Urteilens» befasst, als ich ganz unver-hofft einen Telefonanruf von Fritz erhielt. Er sei gerade auf der Durchreise und es wäre doch schön, wenn wir uns wieder einmal sehen könnten. Das fand ich eine gute Idee und so verabredeten wir uns am nächsten Abend zum Nachtessen. Ich freute mich auf das Treffen, war aber auch etwas angespannt. Denn seine Frage am Telefon, ob er denn als sogenannt «Nicht-Geimpfter» aus Deutschland in der Schweiz überhaupt ein Restaurant besuchen könnte, hatte ich sehr wohl registriert. Nicht, dass ich grundsätzlich etwas gegen Menschen habe, die sich nicht impfen lassen wollen. Aber war da nicht dieser leicht arrogant oder selbstgefällig wirkende Unterton in seiner Stimme, als er diese Frage stellte? Oder bildete ich mir das nur ein? Jedenfalls machte ich mir so meine Gedanken und mir kamen verschiedenste Geschichten in den Sinn von Leuten, die mir erzählt hatten, dass diese Spaltung zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern schon ganze Familien auseinandergebracht hätte.

Das gemeinsame Nachtessen mit Fritz rückte näher – und damit stieg auch meine Anspannung. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, das Thema «Covid-Pandemie» in keiner Weise auszuklammern, nur um eine allfällige Missstimmung zwischen uns um jeden Preis zu verhindern. Denn wenn ich andern Menschen tatsächlich beibringen will, was eine achtsame Grundhaltung ausmacht und wie man es schaffen kann, ganz bei sich zu bleiben - auch wenn man sehr unangenehmen äusseren Einflüssen ausgesetzt ist - dann sollte ich es auch schaffen, mich einen Abend lang neutral und ohne zu urteilen mit einem Menschen unterhalten zu können. Auch wenn er in bestimmten Fragen eine ganz andere Meinung vertritt als ich. Und es sollte mir auch gelingen, eine zu erwartende Auseinandersetzung so zu führen, dass der Beziehungsfaden zwischen mir und meinem Gesprächspartner nicht ganz reisst.

Wir bestellten erst einmal ein Bier und sprachen über alte Zeiten. Wir haben nämlich beide eine leicht nostalgische Ader und es war schön, wieder einmal in diesen Erinnerungen zu schwelgen und uns Geschichten von früher zu erzählen. Dann kam bald die Vorspeise – und beim Hauptgang war es dann soweit. Ich weiss nicht mehr genau, wie wir darauf zu sprechen kamen, aber auf jeden Fall war das Thema auf einmal lanciert. Fritz begann zu erzählen von diesen unglaublichen Freiheitseinschränkungen, die wir da alle auf uns nehmen müssten. Die Demokratie sei massiv gefährdet. Dann kam Bill Gates an die Reihe als machtgieriger Bösewicht, Klaus Schwab als Koordinator eines elitären Zirkels und schliesslich ging es um die angestrebte Reduktion der Weltbevölkerung durch die gezielte und sehr breite Verabreichung einer lebensgefährlichen Substanz – getarnt als Impfstoff.

Ich habe mir dies zunächst einmal alles angehört. Einen Teil dieser Theorien kannte ich allerdings schon aus dem Internet oder aus anderen Gesprächen, die nicht immer sehr konstruktiv verlaufen waren. Was könnte nun aber ein achtsamer Umgang sein mit dieser Situation?

Ich versuchte vorerst einfach, ruhig zu bleiben, mich nicht aufzuregen und nicht in die «Verschwörungsenergie» von Fritz einzutauchen. Ich hörte ihm zu, ohne mich mit ihm und seiner Botschaft zu identifizieren – weder durch Zustimmung noch durch besonders energische Ablehnung (denn dies kommt letztlich auf dasselbe heraus). Es ging mir vielmehr darum, all die Verschwörungstheorien – einer Teflonpfanne ähnlich – an mir abprallen zu lassen. Achtsamkeit bedeutet Akzeptanz von allem, was gerade passiert. Es bedeutet auch, zu erkennen, wie die Dinge wirklich sind und daraus eine weise Beziehung zu diesen Situationen zu entwickeln. Letztlich geht es dann darum, aus diesem klaren Erkennen angemessen handeln zu können.

Er hat sehr viel geredet, ich eher wenig. Ab und zu habe ich erwähnt, dass ich das nicht gleich sehe wie er. So habe ich zum Beispiel erwidert, dass ich die Wahrscheinlichkeit, seine Theorie sei das Ergebnis einer kollektiven Projektion, als weit grösser erachte als die Möglichkeit, dass seine Aussagen objektiv wahr sind. Gleichzeitig habe ich ihm aber auch eingeräumt, dass wir letztlich beide unsere diesbezüglichen Annahmen über die Wirklichkeit nicht beweisen könnten. Der Abend wurde länger und länger, die Weinrechnung teurer und teurer.

Ich musste mich zwar zwischendurch sehr konzentrieren, um nicht in das gedankliche Ping-Pong zu verfallen, aus dem es meist kein Entrinnen mehr gibt. Was mir dabei geholfen hat, war die Konzentration auf meinen Atem sowie das Gefühl, absolut nichts erreichen zu müssen. Ich hatte kein Ziel. Es ging mir nicht darum, ihn von seinem mir doch ziemlich abstrus erscheinenden Gedankengebäude abzubringen.

Die Stimmung im Gespräch war dabei eigentlich ganz gut, auch wenn es mittlerweile offensichtlich geworden war, dass wir in verschiedenen Welten lebten. Fritz machte mir zwischendurch sogar ein Kompliment, indem er mir versicherte, wie super er das fände, dass wir trotzdem so offen und ehrlich miteinander sprechen könnten.

Doch dann begann ich allmählich zu realisieren, dass der wirkliche Stresstest erst noch bevorstand. Es begann ganz harmlos mit ein paar Bemerkungen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland. Er sprach von Kindergärten und Grundschulen, in denen deutsche Kinder in der absoluten Minderheit seien und von Stadtteilen, in denen man nicht mehr merke, dass man sich in Deutschland befinde. Dann ging es weiter mit der Aussage, dass man als Deutscher schliesslich auch das Recht hätte, stolz zu sein auf die eigenen Errungenschaften. Schliesslich kam der Name der hinlänglich bekannten politischen Partei AfD ins Spiel. Fritz lobte sie und bezeichnete sie als die einzige Partei, die in Deutschland überhaupt noch einen klaren Standpunkt vertreten würde.

Spätestens hier erhielt meine innere Gelassenheit deutliche Brüche. Ich verlieh meiner Empörung Ausdruck. Der Abend endete dann nicht ganz so harmonisch, wie ich es mir eigentlich gewünscht hatte. Im Nachhinein beschäftigt mich aber vor allem die Frage, wo in solchen Situationen der schmale Grat zwischen Achtsamkeit und mangelnder Konfliktbereitschaft liegt. Bisher habe ich darauf noch keine klare Antwort gefunden.

Nun, was zurückbleibt ist ein etwas flaues Gefühl in der Magengegend. Zweifel kommen auf, ob ich den Stresstest bestanden habe und ob dies unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch ein lohnenswertes Ziel war. Allerdings glaube ich immer noch daran, dass inneres Wachstum und die Entwicklung zum Guten vor allem durch echten Dialog und durch authentische Begegnungen möglich wird – ohne gegenseitige Verurteilung, aber auch ohne Tabuisierung von heiklen Themen. Ich bin auch immer noch überzeugt davon, dass es sich lohnt, die eigene Fähigkeit zur Achtsamkeit stets weiterzuentwickeln, selbst wenn ich in der Zwischenzeit um eine ziemlich ernüchternde Erfahrung reicher geworden bin.

Bob Schneider, November 2021


Bob Schneider
24.11.2021Bob Schneider
Tags: Mindfulness