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Der narrative Ansatz im Job-Interview

Wer schon zahlreiche Bewerbungsgespräche auf der Arbeitgeberseite geführt hat, der kennt es zur Genüge – die oftmals gleichen und wenig aussagekräftigen Antworten der Bewerbenden. Im Rahmen der Kaderselektion ist dies natürlich auch uns nicht fremd. Und wenn dann von den Stellensuchenden am Ende des Gesprächs als grösste persönliche Schwäche auf die Eigenschaft «etwas ungeduldig» hingewiesen wird, dann kommt bei uns meistens das grosse Gähnen. Doch das muss nicht sein. Es geht auch anders! Ich zeige Ihnen hier, wie Sie mit Hilfe eines methodischen Instruments, das ursprünglich für die qualitative Sozialforschung entwickelt worden ist, zu weit spannenderen Interviews mit weit aussagekräftigeren Inhalten gelangen können. 

Wer sich als Interviewer:in am Ende eines Interviews darüber ärgert, dass es zu keinem wirklich spannenden Gespräch gekommen ist und nachher auch kein richtiges Bild vom Gegenüber besteht, der ärgert sich meist über das eigene Unvermögen, nicht die richtigen Fragen gestellt zu haben. Doch gibt es so etwas wie «die richtigen Fragen» überhaupt? Ich glaube nicht. Sicher – man lernt das schon in der ersten Lektion einer HR-Weiterbildung: «Suggestivfragen vermeiden», «besser offene als geschlossene Fragen stellen» usw. Aber reicht das aus?

Ich habe persönlich die Erfahrung gemacht, dass man Techniken, welche ursprünglich für die Praxis der qualitativen Sozialforschung entwickelt worden sind, sehr gut auch für ein Bewerbungsinterview anwenden kann und dass dies, mit etwas Übung, zu äusserst spannenden Gesprächen mit sehr aufschlussreichen Ergebnissen – dem authentischen Interviewmaterial – führt.

In der Wissenschaftssprache geht es zunächst einmal darum, dass man, um relevante Erkenntnisse zu einem bestimmten Thema (dem sogenannten Gegenstandsbereich der Forschung) generieren zu können, die Forschungsmethode diesem Gegenstandsbereich anpassen muss. Wenn wir also erfahren wollen, wie ein Mensch im Berufsalltag tickt, welche Werte er wirklich vertritt, wie er die Dinge betrachtet, wie er Probleme löst, wie er sich in einem Team verhält, wie er bei Stresssituationen reagiert, wie er andere Menschen führt und was ihm dabei besonders wichtig ist usw., dann müssen wir unsere Forschungsmethode genau diesen Fragestellungen anpassen. Dabei ist zu beachten, dass wir nicht allzu naiv an die Forschungssituation herantreten sollten, indem wir einfach vorschnell genau danach fragen. Denn in diesem Fall passiert meistens das, was wir vermeiden sollten: Die interviewte Person überlegt sich, was wohl hinter einer bestimmten Frage stecken könnte und welche Antwort man allenfalls von ihr erwarten dürfte zu antworten. Da sich die Person zudem in einer Art Prüfungs- und Wettbewerbssituation befindet (sie will ja eine Zusage für die Stelle erhalten), wird sie all ihre Energie dafür einsetzen, möglichst «gute Antworten» zu geben und sie tendiert dann dazu, «sozial erwünscht» die Fragen zu beantworten. Dies entspricht jedoch bei weitem nicht der Zielsetzung der forschenden Person, welche ja einzig und allein an der «objektiven Wahrheit» interessiert ist. Die forschende Person möchte nicht herausfinden, welche Vorstellungen die beforschte Person darüber hat, was der zukünftige Arbeitgeber möglicherweise als wichtig erachten könnte – was also als erwünscht betrachtet werden kann. Sie möchte vielmehr herausfinden, was für ein Mensch hinter der (meist makellosen) Fassade wirklich steckt. Wie tickt jemand? Wie denkt jemand? Wie geht jemand mit seinen Emotionen um und wie ist jemand zu dem Meschen geworden, der er heute ist?

Aber wie gelingt es einem, nicht in diese Falle zu tappen und die wenig hilfreichen Antworttendenzen zu sozialer Erwünschtheit zu überwinden? Genau an diesem Punkt setzt nun die Genialität des narrativen Ansatzes an: Man geht dabei nämlich davon aus, dass Menschen vor allem dann authentische Aussagen über sich und ihr Leben zu machen bereit sind, wenn sie dafür motiviert werden können, einfach aus ihrem Leben zu erzählen – quasi frisch von der Leber weg. Was hat ein Mensch erlebt und was hat er sich dabei gedacht? Was war ihm damals wichtig und was blendet er möglicherweise auch heute noch völlig aus? Wie reflektiert er heute darüber?
Wenn dies gelingt, haben wir schon die halbe Miete. Dann haben wir nämlich dieses energieraubende Aushalten-Müssen der Selbstkontrollbestrebungen unseres Gesprächspartners bereits überwunden. Wir haben eine Gesprächsatmosphäre geschaffen, in welcher uns ein anderer Mensch einfach ein bisschen an seinem Leben teilhaben lässt, indem er uns etwas davon erzählt. Dies ist an sich schon insofern sehr wertvoll, als es sich dann immer um authentisches Interviewmaterial handelt, das nicht weiter korrigiert werden muss. Es handelt sich dann um «Originalsprache». Jetzt fehlt natürlich noch die andere Hälfte der Miete. Wir wollen ja nicht irgendetwas aus dem Leben dieser Person erfahren, sondern wir haben ziemlich genaue Vorstellungen darüber, was wir am Ende des Gesprächs wissen möchten. Das heisst für die interviewende Person: Sie muss nicht nur Störfaktoren verhindern, indem sie sich um eine gute und vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre bemüht, in welcher die Bereitschaft des Gegenübers gefördert wird, offen zu reden. Sie muss gleichzeitig auch das Gespräch in eine bestimmte Richtung lenken, ohne dabei den natürlichen Redefluss der interviewten Person zu stören.

Genau hier – in dieser Balance zwischen strukturiertem Gespräch mit einer klaren Fragerichtung einerseits und dem bewussten Laufenlassen und Fördern des natürlichen subjektiven Erzählstranges andererseits – liegt dies grosse Kunst dieser Methode. Man muss dafür allmählich ein Gefühl entwickeln, wann es besser ist, das Erzählen laufenzulassen (selbst wenn der Inhalt auch einmal etwas von der ursprünglichen Fragerichtung wegführen sollte) und wann es dann aber an der Zeit ist, strukturierend einzugreifen und dem Gespräch wieder eine andere Richtung zu geben.

Wer diese Technik beherrscht, dem gelingt es meistens, ein spannendes Interview durchführen zu können, wobei natürlich auch hier die Ausnahme die Regel bestätigt.

Bob Schneider
31.03.2023Bob Schneider
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